„So. Der alten Hexe hab ich es jetzt mal gegeben.“ Ich war acht Jahre alt und stampfte mit dem Fuß auf den weichen Waldboden. Endlich hatte ich den Mut gefunden, dieser Frau meine Meinung zu sagen.
Die „alte Hexe“ war eine Nachbarin aus der Nebenstraße. Immer wieder ärgerte sie meine Mutter mit kleinen Feindseligkeiten. Meine Mutter hat sich aber nie gewehrt. Sie kam noch nicht mal auf die Idee dazu. In meiner Kinderseele regte sich jedoch ein großer Gerechtigkeitssinn, wenn über dieses Thema ab und zu im Familienkreis gesprochen wurde. So hatte also ich mich für meine Mutter gewehrt. Mit dem vollen Brustton der Überzeugung.
Mit eben dieser Überzeugung erzählte ich meiner Mutter davon, als ich von meinem Waldausflug wieder nach Hause kam. Ihre Reaktion traf mich deshalb wie ein Eisregen im Sommer.
„Kind! So geht das nicht! Du hast kein Recht, eine alte Frau so zu behandeln. Mit deinen acht Jahren steht dir das überhaupt nicht zu! Wenn ich das nicht tue, dann darft du das schon gar nicht machen!“
Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Eigentlich sollte ich dich dafür über’s Knie legen. Aber das hat keinen Sinn. Du gehst jetzt zu der Frau und bittest um Verzeihung!“
Ich riss die Augen auf. „Echt? Das soll ich machen? Aber ich hab‘ doch für dich …“
„Nichts da. Ich habe dir keinen Auftrag gegeben, dass du dich für mich verstreiten sollst. Du gehst!“
Meine Mutter suchte drei große, frisch aus dem Garten gepflückte Äpfel, wusch sie und rieb sie trocken, so dass sie glänzten.
„Die nimmst du mit und gibst sie der Frau extra zu deiner Entschuldigung.“ Sie drückte mir die Äpfel in die Hand und schob mich zur Tür hinaus.
„Aber Mama. Die Frau hat doch einen großen, gefährlichen Hund. Der beißt mich bestimmt.“
„Das hättest du dir früher überlegen sollen, Fräuleinchen. Geh jetzt!“
Ich ging immer noch nicht und wehrte mich bibbernd mich allen Kräften gegen den mütterlichen Druck.
„Kann mich meine Schwester nicht begleiten? Ich hab doch Angst vor dem Hund.“
„Von mir aus. Aber dann gehst du und entschuldigst dich. Drückeberger sind feige!“
Meine Mutter rief nach der Schwester, die nicht gerade begeistert war. Hatte sie doch nichts gemacht und musste mich jetzt decken. Ärgerlich und genervt trottete sie neben mir her, bis wir am Haus der alten Frau waren.
Der Hund bellte. Wo war die Klingel? Vor lauter Angst wollte ich schon wieder davonlaufen. Aber meine Schwester hielt mich zurück.
„Du wirst doch jetzt kurz vor dem Ziel nicht kneifen wollen!?“
Da öffnete sich ein Fenster im Haus und die alte Frau schaute heraus. Leise und zitternd brachte ich meine Bitte um Verzeihung vor.
„Ist gut“, sagte sie mit krächzender Stimme. „Die Äpfel kannst du dort auf den Mauerpfosten legen. Ich hol sie später. Und jetzt geh!“
Das brauchte die Frau mir nicht zweimal zu sagen. In Riesenschritten eilte ich meiner Schwester nach, die schon wieder in Richtung zu Hause unterwegs war. Schnell holte ich sie ein.
„Ich fühle mich so erleichtert. Es ist ein riesiger Stein von meinem Herzen gefallen. Jetzt geht es mir viel besser als vorher.“ Lustig plaudernd ging ich neben meiner Schwester her, die schweigend zuhörte.
Zuhause erzählte ich meiner Mutter haarklein was sich zugetragen hatte und wie ich mich dabei gefühlt hatte.
„Um Böses zu tun braucht man keinen Mut,“ sagte sie. „Aber um Verzeihung zu zu bitten, dafür schon. Ich hoffe, dass du diese Lektion nie vergessen wirst.“
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Nein. Ich habe diese Lektion nie vergessen. Auch nach mehr als 50 Jahren nicht. Und Dank Esther Nogler’s Blogparade zum Thema: „Da war ich mutig“ habe ich sie aufgeschrieben.
Was meinst du dazu? War das für dich mutig?