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Marianne hievt ihren Rollator aus der offenen Bustür und stellt langsam ein Bein nach dem anderen auf den Bürgersteig. Dann macht sie zwei Schritte und bleibt stehen, während der Busfahrer die Tür schließt und davonfährt. Schwer atmend setzt sie sich auf die Sitzfläche ihres Rollators und legt ihre Ellbogen rechts und links auf die Griffe.

Auf der anderen Straßenseite geht Ingrid und ruft: „Hallo, Hallo! Ich komme gleich.“ Dabei winkt sie kräftig und schiebt einhändig den wackelnden Rollator vor sich an die Bordsteinkante. Fast bekommt Marianne es mit der Angst zu tun, als sie sieht, wie ein dicker LKW anrollt, der ihre Freundin für einen Augenblick ihren Blicken entzieht.

Während Marianne durch ihre dicke Brille beobachtet, wie Ingrid hektisch ruckelnd ihren Rollator auf die Straße schiebt und zu ihr herüberkommt, spürt sie einen Druck in ihrer Blase. Ich hätte nicht so viel Kaffee trinken sollen, ehe ich losgefahren bin, überlegt sie.

Als Ingrid ihren Rollator direkt vor ihren Knien parkt und Anstalten macht, sie zu umarmen, wehrt Marianne ab. „Nicht so stürmisch, sonst fallen wir beide um. Wie lange dauert es noch bis zu dem Café wo du für uns beide reserviert hast?“

„Das ist nicht weit.“ Ingrid zeigt mit dem Daumen über ihre Schulter nach hinten. Marianne folgt mit den Augen.

„Na, wenn du die Entfernung nur mal nicht unterschätzt. Wir sind mit unseren rollenden Gehilfen bestimmt nicht so schnell. Wir sollten uns aber beeilen. Du weißt ja. In unserem Alter muss man öfter.“

„Ach. Das wirst du schon noch halten können“, sagt Ingrid und Marianne freut sich, dass ihre Freundin ihr das noch zutraut. Sie ist sich selbst aber nicht ganz sicher und klemmt ihre Oberschenkel zusammen.

Die beiden Seniorinnen legen achtsam und bedächtig die holprige Kopfsteinpflasterstrecke bis zum Café zurück. Mit jeder Unebenheit verstärkt sich der Druck in Mariannes Blase. Vor dem Café müssen die beiden Freundinnen auf die andere Straßenseite wechseln. Der Fußgängerüberweg ist durch eine Ampel geregelt. Mit schnellen, kräftigen Hieben fordert Marianne das Signal an. Endlich bemerkt sie, dass die Autos anhalten.

„Mensch! Mach schon,“ grummelt sie vor sich hin und trippelt von einem Fuß auf den anderen.

„Nein. Lieber jetzt noch nicht.“ Ingrid blinzelt sie schalkhaft an. „Warte lieber, bis zu drüben aufs Örtchen kannst.“

„Du! Bring mich nicht zum Lachen! Ich will nicht vor der Zeit loslassen.“ Marianne grinst schräg. Unruhig schiebt sie ihrem Rollator hin und her. Endlich springt das Ampelzeichen auf Grün. Hohe Pipstöne aus dem Ampelschaltkasten begleiten sie bis zur anderen Straßenseite.

Marianne nimmt sofort Kurs auf die Eingangstür. Mit ihrem Rollator geht sie dicht ran und zieht am Griff. „Die geht aber schwer,“ stöhnt sie und verstärkt den Druck ihrer Oberschenkel.

„Jetzt aber hurtig!“ Ingrid setzt sich auf ihren Rollator, drückt die Tür nach hinten und klatscht in die Hände. „Geh schon mal vor. Da geht’s lang.“ Mit dem Kopf nickt sie schräg nach hinten.

Schneller als sonst schiebt Marianne ihren Rollator in die angezeigte Richtung und ist kurz darauf hinter der Tür verschwunden, die als „für Damen“ markiert ist.

Als sie zurückkommt, hat Ingrid einen schönen Fensterplatz ergattert. Marianne schiebt ihren Rollator an die Seite und setzt sich ihrer Freundin gegenüber. Ein tiefer Seufzer entweicht ihrer Brust. „So. Erleichtert. Das war höchste Zeit zum Loslassen.“

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Kamst du auch einmal in eine Situation, in der du dringend etwas loslassen musstest? Schreib mir gerne einen Kommentar.

Dieser Beitrag ist entstanden aufgrund eines Impulses aus der Blognacht von Anna Koschinski.