Siebenundvierzig, achtundvierzig, neunundvierzig. Geschafft. Ich spüre mein Herz pochen und atme ein paar Mal tief ein. Nach ein paar Schritten klopft es wieder in normaler Geschwindigkeit.
Jeden Tag zähle ich leise die Anzahl der Stufen, wenn ich zu meinen mir anbefohlenen Schützlingen ins Dachgeschoss gehe. Meine Schutzbefohlenen sind die Bewohner eines Altenheimes. Sie freuen sich immer, wenn ich komme. Egal, ob sie mich erst vor fünf Minuten gesehen haben, oder vor fünf Tagen.
Da ist die Frau, die schon lange nur im Bett liegt. Sie winkt mir zu, wenn ich an ihrer offenen Zimmertür vorbei gehe. Ihre Sprache beschränkt sich auf wenige Worte. Was sie möchte, muss ich mehr erraten, als dass es verständlich ist. Aber sie lächelt wenn sie mich sieht. Ich weiß, dass sie sich freut, wenn ich ihr meine Zeit widme. Ich gehe deshalb zu ihr, begrüße sie und streichle ihr sanft über die Schultern.
Eine andere Frau kommt mir mit dem Rollator entgegen. Sie lacht über das ganze Gesicht und fängt an zu reden, wie ein Wasserfall. Ich höre ihr zu und bin ganz bei ihr. Dabei weiß ich, dass ihr Wortschatz sich innerhalb von kürzester Zeit wiederholt. Aber sie braucht jetzt meine ungeteilte Aufmerksamkeit und deshalb gebe ich sie ihr.
Gleich um die Ecke im Sessel sitzt noch eine Frau. Die Kleidung ist tiptop in Ordnung und farblich aufeinander abgestimmt. Die Fingernägel sind lackiert. Als sie jung war, war sie eine Dame von Welt. Jetzt hat sie einen Dauerkatheter und zieht deshalb ständig den Geruch von beißendem Urin mit sich. Sie weiß, was sie will und kann sich ausdrücken. Aber es fällt ihr schwer, sich mit ihren körperlichen Gebrechen abzufinden. Auch sie bekommt meine Zuwendung und meine Zeit.
Ein Mann hangelt sich langsam am Flurgeländer entlang. Als er mich sieht kommt er mir entgegen und sagt: „Hallo schöne Frau“. Und ich antworte ihm: „Hallo schöner Mann“. Es ist wie ein Ritual zwischen ihm und mir. Meine Kolleginnen sagen manchmal, dass ich aufpassen soll, dass er mir nicht zu nahe trete, denn er sei früher ein Schürzenjäger gewesen. Für mich ist dieser alte Mann aber einfach nur ein Mensch, der eben jetzt gerade in diesem Moment gerne Spaß macht.
Ein Stück weiter den Gang entlang sehe ich unsere älteste Bewohnerin im Rollstuhl sitzen und sich langsam mit Minischritten vorwärts bewegen. Sie ist voll darauf konzentriert, ihren kleinen Weg alleine zu meistern. Wie sie sich immer noch anstrengt, denke ich und gehe ihr entgegen. Direkt vor ihr bleibe ich stehen, spreche sie laut an und streichle ihren Rücken. Sie wendet den Kopf und es zeigt sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. „Schön, dass du da bist“, sagt sie. Dabei weiß ich ganz genau, dass sie nur meinen Schatten und meine Aura wahrnimmt, denn sie ist fast blind.
Das Zimmer einer sterbenden Frau betrete ich sehr leise. Ich fühle, dass es nur noch kurze Zeit ist, bis sie von der diseitigen in die jenseitige Welt geht. Genau wie alle Anderen bekommt sie meine volle Aufmerksamkeit. Ich habe ihr sanfte Musik mitgebracht, auf die sie kaum eine Reaktion zeigt. Trotzdem weiß ich, dass sie meine Gegenwart spürt und die Musik hört.
Das sind nur einige, wenige Beispiele meiner täglichen Arbeit. Mein Herz schlägt dafür, diesen Menschen im Atenheim meine Liebe zu geben. Und ich erhalte ihre Zuneigung in so vielfältiger Weise zurück, dass ich einfach nur dankbar dafür sein kann.
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Vielen Dank an Anna für den Impuls in der 46. Blognacht.