Die Stimme meiner Mama dringt durch die geschlossene Tür an mein Ohr. Wie automatisch antworte ich: „Ja? Was gibt’s?“
Ihre Antwort höre ich nicht mehr, denn meine Nase hängt in einem Buch. Draußen ist es Hochsommer. Die Holzläden am Fenster sind geschlossen. Dadurch ist es schön dämmrig und kuschelig in meinem Zimmer, wo ich es mir halbsitzend auf dem Bett gemütlich gemacht habe.
Das Buch fesselt mich. Die Figur, mit der ich mitfiebere ist ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsen werden. Es wird nicht beschrieben, aber ich stelle mir vor, dass sie ein paar Jahre älter ist als ich. Ich bin zu diesem Zeitpunkt ungefähr 14 Jahre alt.
Vor meinem inneren Auge werden die Plätze lebendig, auf denen sich das Mädchen, ihre Familie und Freunde und natürlich auch der junge Mann bewegen. Ein Häuschen, in dem eine alte Tante wohnt, die Straßen eines Städtchens, in dem so 08/15-Bürger wohnen. Die Postkutsche, mit dem das Mädchen auf Reise geht und die langen Baumalleen, an denen das Gefährt vorüberholpert. Die Stufen einer Kirche, auf denen sie beobachtet, wie der Herzensmann mit anderen Menschen umgeht. Und dann das Meer …
Meine reale Welt verschwindet. Ich merke nicht, dass es draußen dunkler wird. Nach knapp 300 Seiten ist das Buch zu Ende und ich schlage es zu.
„Haaaa. Schön.“ Ich seufze tief. Sie haben sich gekriegt.
„Sag mal. Was machst du denn so lange?“ Meine Mama hat mich gesucht und gefunden.
„Ich habe gelesen.“
„Zeig mal her. Was hast du denn gelesen?“ Sie setzt sich auf die Bettkante.
Ich reiche ihr das Buch und sie schaut auf Titel und Autorin. „Kraft des Herzens“ von Leontine von Winterfeld-Platen.
„Oh. Das ist ein schönes Buch. Das habe ich auch gelesen. Hat es dir gefallen?“
„Ja. Sehr.“ Ich rücke etwas näher an Mama heran und lege meinen Kopf an ihre Schulter. „Am liebsten würde ich es gleich noch einmal lesen.
„Warum nicht. Lies es doch mit deiner Schwester zusammen. Kapitelweise kann eine der anderen vorlesen.“
„Oh ja. Gute Idee.“
Mama erhebt sich und geht zur Tür. „Aber heute Abend nicht mehr. Morgen ist Schule. Da musst du früh aufstehen.“ Sie bleibt im Türrahmen stehen und schaut mich an. „Übrigens. Diese Schriftstellerin hat noch mehr gute Bücher geschrieben. Ich glaube, ich hab noch welche von ihr. Magst du die auch lesen?“
„Au fein. Wann?“
„Heute Abend nicht mehr. Jetzt wird geschlafen.“
Ich schlafe tatsächlich sehr schnell ein. Und dann träume ich. Natürlich etwas Schönes. Meine Wirklichkeit vermischt sich mit dem wunderschönen Buch, das ich gelesen habe.
Sobald wie möglich stecke ich meine Nase auch in die anderen Bücher dieser Autorin. Insgesamt mehr als 50 Bücher hat sie in ihrem Leben geschrieben und ich habe (fast) alle gelesen. Und es war kaum eins dabei, das ich nur einmal durchgeschmökert habe.
Zu der Zeit, als ich die Bücher von Leontine von Winterfeld-Platen in die Finger bekommen habe, war sie schon 20 Jahre tot. Aber sie hat mich in eine Welt hineingenommen, die mir meine Fantasie erschlossen hat. Viele ihre Bücher haben einen realen historischen Kontext und die Plätze, die sie beschreibt, gibt es zum Teil heute noch. Die langen Baumalleen, die Seen, die Flüsse, das Meer und vieles mehr. Es hat sich so in meine Fantasie eingebrannt, dass ich mir damals in den 1980er-Jahren vorgenommen habe, diese Orte einmal persönlich zu besuchen. Heute wohne ich selbst in der Nähe der Orte, die sie in vielen Romanen beschreiben hat. Die Bilder, die ich damals in meiner Fantasie malte, decken sich sehr oft auch heute noch mit der Realität.
Wie Leontine von Winterfeld-Platen schrieb, das zieht mich heute noch in den Bann. So ähnlich möchte ich auch die Lesenden meiner eigenen Geschichten erreichen. Ich träume davon, dass auch noch lange nach meinem Tod meine Geschichten gelesen werden und in der Fantasie der Lesenden lebendig bleiben.
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An dieser Stelle möchte ich mich bei der lieben Edith Gould bedanken, die eine Blogparade ins Leben gerufen hat zum Thema: Diese 3 Bücher haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Bei mir waren es die Bücher einer Autorin, die mich im Lesen und Schreiben über ihren Tod hinaus beeinflusst haben.
Hat dich auch eine Autorin so beeinflusst, oder waren es doch 3 Bücher? Schreibe mir doch gerne einen Kommentar. Noch besser: Schreib einen eigenen Artikel zur Blogparade von Edith.