Geputzte Fenster

Freudestrahlend reicht sie mir einen herrlich duftenden Frühlingsblumenstrauß, als ich ihr die Tür öffnete.

„Komm, leg ab. Hier ist die Garderobe.“ Wir treten in den Flur und gehen dann ins große Wohnzimmer, in dem ich eine nette kleine Teetafel für uns gedeckt habe.

„Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen.“ Sie setzt sich. Ich stelle den Strauß in eine Vase und dekoriere damit den Tisch.

„Stimmt. Du warst nicht mehr bei mir, seit ich umgezogen bin.“ Ich halte ihr die Kanne hin. „Tee?“

„Gerne.“ Wir zwei Frauen haben uns viel zu erzählen. Währenddessen geht ihr Blick immer wieder zum großen Fenster.

Ich wundere mich, was sie draußen wohl sieht, frage aber nicht. Sie erzählt spannend aus der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben.

„Hast du Lust auf eine Hausführung?“, frage ich nach einer ganzen Weile. „Immerhin hast du außer unserem Wohnzimmer bis jetzt noch nichts gesehen.“

„Ja natürlich. Ich bin sehr gespannt.“

„Wir fangen am besten unten an und arbeiten uns dann so langsam nach oben.“ Ich führe sie die Treppe nach unten und öffne rechter Hand eine Tür, durch die helles Sonnenlicht flutet.

„Hier in diesem Raum hatte der Vorbesitzer einen Partykeller.“

„Wow!“ Sie zieht die Luft ein. „Auf zwei Seiten voll verspiegelt! Sieht richtig gut aus.“ Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben.

So gehen wir im Haus von Raum zu Raum. In jedem Zimmer sieht sie durch das Fenster und zieht ihre Augenbrauen hoch. Ich wundere mich, denn jedes Mal finde ich nichts Besonderes, was es draußen zu sehen gibt.

„Auf den Dachboden müssen wir nicht gehen, oder?“

„Gibt es dort ein Fenster?“ Sie sieht mich fragend an.

„Nein. Nur eine Neonlampe. Komm. Wir trinken noch eine Tase Tee.“

Wir setzen uns wieder ins Wohnzimmer und machen es uns gemütlich. Da zieht sie wieder die Augenbrauen nach oben.

Nun traue ich mich doch, sie darauf anzusprechen.

„Sag mal, gibt es einen Grund, warum du immer deine Stirn runzelst?“

„Hm. Ich traue es mir eigentlich nicht zu sagen. Aber weil es du bist.“ Sie macht eine lange Pause und ich bin sehr gespannt, was nun kommt.

„Ich mag dich ja total gerne. Aber in deinem Haushalt sind sogar die Fenster perfekt geputzt. Auch keinen einzigen Spiegel habe ich gesehen, auf dem eine Schliere oder ein Wassertropfen gewesen wäre. Meine Fenster sehen immer dreckig aus. Du hast in allen Haushaltsdingen immer das bessere Ergebnis von uns beiden gehabt. Ich fühle mich dadurch irgendwie schlecht, weil ich das so nicht hinbekomme.“

Sie schluckt und schaut wieder aus dem Fenster. Ich hingegen platze vor Lachen laut hinaus.

„Da täuscht du dich aber gewaltig, meine Liebe. Meine Fenster putze ich nie selbst. Das macht schon immer mein Mann. Was du siehtst, ist seine Arbeit von heute vormittag. Sein Ergebnis ist das Beste.“

Sie atmet tief aus. „Puh. Da bin ich aber erleichtert. Dass ich mich so irren konnte! Darauf brauch ich noch eine Tasse Tee.“ Lächelnd hält sie mir ihre Tasse zum Nachgießen entgegen.

—–

Hast du auch einmal ein Erlebnis gehabt, an dem du das beste Ergebnis von anderen zugeschrieben bekommen hast? Schreib es mir doch gerne in einem Kommentar.

2 Kommentare
  1. Lydia
    Lydia sagte:

    Eine Geschichte, bei der ich ein anderes Ende erwartet hatte – das gebe ich gerne zu.
    Du hast die Auflösung der Augenbaruenbewegung ja ganz schön spannend gemacht …

    Tatsächlich ist bei uns auch mein Mann fürs Fensterputzen zuständig – weil er es einfach besser kann – genau wie Spülmaschine einräumen …

    ÜBer die Zuschreibung des besten Ergebnisses, das andere erzielt haben, denke ich erstmal noch ein bisschen nach …
    Danke für die Anregung!

    Allerdings legen wir beide keinen Wert auf häufiges Fensterputzen und dank der sauberen Landluft ist das auch nicht nötig … 😉

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    • Edith Leistner
      Edith Leistner sagte:

      Liebe Lydia,
      endlich habe ich mal jemand gefunden, bei dem es mit dem Fenster putzen genau so ist, wie bei mir. Wie häufig geputzt wird, bestimmt auch mein Mann. Sein Stammplatz am Esstisch ist genau gegenüber dem großen Fenster. Wenn dort die Sonne schön reinscheint und den Dreck offenbart, dann kann er nicht anders, als den Lappen in die Hand zu nehmen und loszulegen. Am Ende ist er immer glücklich, weil er das gute Ergebnis sofort sieht. Ich übrigens auch.

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