Klein Edith sitzt ganz vorne in der ersten Reihe der Schulbänke. Die Lehrerin hat das so bestimmt. Vorne an der Tafel stehen Buchstaben. Die sollen fein säuberlich mit dem Bleistift in das Heft übertragen werden. Schwer liegt die Hand von Klein Edith auf dem Tisch und die Finger krallen sich um den Bleistift. Obwohl die Linien im Heft schon vorgezeichnet sind, kann Klein Edith die Buchstaben nicht hundertprozentig genau nachschreiben. Oft bekommt sie zu hören: „Das hast du nicht so schön gemacht. Mach es noch einmal.“
Klein Edith stöhnt und schreibt. Sie spürt am eigenen Leib, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Von ihrem liebevollen Vater aber lernt sie eine Eselsbrücke, mit der dann so manche Übungsstunde versüßt wird. Sie lautet: Auf, ab, auf. Pünktchen drauf. Und so lernt Klein Edith nicht nur das kleine i in Schreibschrift, sondern im Laufe der ersten Klasse alle Buchstaben des Alphabeths. Noch krakelt sie etwas auf den Heftseiten herum, aber die erste große Hürde des Schreibenlernens ist geschafft.
Mit 16 Jahren sitzt Edith wieder in der ersten Reihe in einem Klassenzimmer und lernt schreiben. Dieses Mal eine ganz neue Schrift, die man Kurzschrift nennt. Auch jetzt sind die Linien im Heft vorgegeben. Es kommt sehr auf die Genauigkeit an, denn je nach dem, auf welcher Linie sich ein Zeichen befindet, ist die Bedeutung des geschriebenen Wortes anders. Es heißt für Edith also, wie in der ersten Klasse, oft zu üben und zu wiederholen. Der i-Punkt, auf den sie in der ersten Klasse so viel Wert legen musste, bedeutet jetzt ein ganzes Wort.
Ungefähr ein Jahr dauert es, bis Edith die meisten Zeichen und Kürzel der Kurzschrift schreiben kann. Und jetzt kommt es auf die Schnelligkeit an. Hui, wie macht das Spaß zu sehen, wie der Bleistift über das Papier fliegt.
Dreißig Jahre später sitzt Edith an einem kleinen Einzeltisch in einem großen Lehrsaal. Rechts und links neben ihr sitzen Kandidaten, die dasselbe vorhaben. Vor ihr liegen lose Blätter mit Linien, auf denen sie demnächst repetiert, was sie gelernt hat. Nach vier Jahren Weiterbildung für das Abitur über Fernschule ist heute die Deutschprüfung an der Reihe. Als sie die Aufgabenstellung liest, schmunzelt sie. Es ist ein gutes Thema. Darüber lässt sich etwas schreiben.
Und dann scheibt sie was das Zeug hält. Es fließt und fließt. Nach drei Stunden gibt sie ab und glaubt daran, dass ihre geleistete Arbeit gut bewertet wird.
Auch heute sitzt Edith vor einem linierten Block und schreibt. Obwohl man doch heutzutage alles in den Computer schreibt. Aber Edith liebt es, mit dem Bleistift auf liniertes Papier zu schreiben. Das Kratzen auf dem Papier ist wie angenehme Hintergrundmusik, bei der sie ihre Gedanken und Ideen einfach vom Kopf durch die Hand auf das Papier fließen lassen kann.
Und so entsteht manche Geschichte, manches Gedicht oder auch mancher Blogbeitrag. Besonders gerne schreibt Edith in der Blognacht mit Anna Koschinski und anderen bekannten und unbekannten Schreiberlingen. Mit jedem entstandenen Werk stellt sie fest, dass sie das Schreiben nicht mehr lassen kann. Es ist eine heimliche Hoffnung in ihr, dass sich das Sprichwort bewahrheitet: Wer schreibt, der bleibt.
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