Meine Feuertaufe
Ich halte einen Brief in der Hand und muss dreimal schlucken. Da steht schwarz auf weiß, dass ich hier in der Stadt von meinen eigenen Texten etwas vorlesen soll. Ich freue mich darüber. Aber. …
„Kannst du das überhaupt?“ fragt mich mein innerer Blockierer und schiebt gleich noch hinterher: „Sei mal etwas bescheidener. Deine Texte will doch sowieso niemand lesen. Da hilft es auch nicht, wenn du sie selbst vorliest.“ Und wusch … ist die Freude weg.
Schon will ich eine Absage formulieren, da klingelt das Telefon. Die Verfasserin des Briefes, Frau Baum, ruft an und will schon meine Antwort wissen. Ich bringe alle meine Argumente vor, von denen ich hoffe, dass sie ziehen, aber die Dame lässt keine Widerrede zu. Mit einem tiefen Seufzer sage ich dann doch zu. Kurz werde ich noch über den Termin und den Ort informiert, an dem die Lesung stattfinden soll.
„Aus dieser Nummer kommst du jetzt nicht mehr raus“, denke ich und eine schlaflose Nacht folgt der anderen. Da sehe ich in der Zeitung eine Anzeige, die über meine Lesung informiert. Jetzt wird es Zeit, dass ich einige meiner Texte aussuche, die ich dann lesen werde.
Doch nicht nur ich habe die Anzeige in der Zeitung gelesen. Eine ehemalige Kollegin ruft mich an und flötet mit aufgesetzt freundlicher Stimme ins Telefon: „Na. Du willst ja wohl groß herauskommen. Ob das was wird? Du hattest doch immer eine so leise Stimme und konntest dich nie durchsetzen.“ Mein Magen krampft sich bei diesen Worten zusammen und nach dem Ende des Telefonates fange ich an zu weinen. Lange dauert es, bis ich mich wieder beruhigt habe.
Frau Baum meldet sich wieder und spricht mit mir noch einige Details ab. Ein Mikrofon soll mir zur Verfügung gestellt werden und ein Techniker wird mir zur Seite stehen. Ich bin erleichtert und bekomme neuen Mut. Der große Spiegel in unserer Wohnung wird nun zweckentfremdet, denn ich fange an, laut vorzulesen und mich dabei zu beobachten. Es soll mir ja kein Fehler passieren. Das wäre der blanke Horror.
Mit schweißnassen Händen und zitternden Knien betrete ich zur Generalprobe den vorbereiteten Saal. Der Techniker ist da und testet gerade das Mikrofon. Die Stühle sind schon gestellt für die Veranstaltung, die am nächsten Abend stattfinden soll. Ich beginne. Dann wird meine Stimme brüchig und ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Der Hustenanfall will nicht enden. Am Schluss ist der Techniker völlig genervt und meint: „Wenn das morgen auch so geht, dann wird es wohl ein reines Desaster.“ Hustend und mit Tränen in den Augen verabschiede ich mich.
In der Nacht kann ich sehr schlecht schlafen und falle erst in den Morgenstunden in einen Erschöpfungsschlaf. Da reißt mich das Telefon aus der einzigen Tiefschlafphase dieser Nacht. Frau Baum ist dran und verkündet mir, dass meine Lesung heute Abend ausfallen würde, denn es wäre in dem Saal, in dem sie stattfinden hätte sollen, ein Wasserschaden aufgetreten, der erst einmal behoben werden müsse. „Ich finde aber auf jeden Fall einen Ersatztermin für Sie“, ermuntert sie mich und meint, damit würde sie mich trösten. Weit gefehlt. Denn eigentlich will ich jetzt nicht mehr vorlesen.
Aber Frau Baum scheint nicht aufgeben zu wollen. Statt einer Zeitungsanzeige hängen jetzt mehrere Plakate in der Stadt und machen meine Lesung bekannt. Es soll in der Stadtkirche am Sonntagabend stattfinden. „So schnell?“ denke ich und habe gar keine Zeit mehr für eine extra Vorbereitung, geschweige denn für Lampenfieber. Schon ist es nämlich Sonntagabend und ich stehe auf einer extra für mich vorbereiteten Bühne mit Stehtisch vor mir, um meine Texte abzulegen. Auch ein Mikrofon ist aufgebaut und an der Technik sitzt dieses Mal eine junge Frau.
Nur noch kurz haben meine Knie Zeit zum Zittern, dann ist es soweit, dass ich beginnen kann. Fließend, klar und rein klingt meine Stimme durch den Kirchensaal. Es ist, als würde die Akustik meine Stimme in Atmosphäre umwandeln. Kurz lasse ich meinen Blick über die Zuhörer wandern. Alle hängen mit offenen Augen und manche auch mit offenem Mund an meinen Lippen. Es ist so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Ich nehme den Augenblick tief in mich auf und lese ruhig weiter bis zum Schluss.
Frau Baum verabschiedet dann die Zuhörer und gibt ihnen Gelegenheit, noch mit mir zu sprechen. Ich ernte manches Lob, das mich mit einem bescheidenen Erröten zurücklässt.
Vorlesen kann ich gut. Das wird mir immer wieder bestätigt. Die obige Geschichte ist in der #Blognacht mit Anna entstanden und ich freue mich darüber, wenn sie dir gefallen hat und du mir einen Kommentar hinterlässt.
Glückwunsch, liebe Edith, dass du durchgezogen hast! Dein Mut hat sich rechtzeitig eingestellt und du hast deine Kritiker „stumm“-gelesen. Genau so darf das sein!
Auf zur nächsten Lesung und du wirst spüren: das macht Spaß, weil du es kannst!
Gruß von einer Kollegin,
Gabi alias Juli Norden
🙂
Danke Gabi für deine Ermutigung. Einfach nur Danke. Aus meinem tiefsten Herzen.
Hallo Edith!
Was für ein schöner Beitrag! Ich war ganz gefangen in der Geschichte und kann so gut mit Dir mitfühlen!
Es erfordert viel Mut, vor Publikum zu treten. Alle schauen einen an, alle erwarten was tolles. Und du hast es gerockt!! Klasse!! 💪
Respektvolle Grüße aus dem Mausloch
Liebe Sabine,
so ein Auftritt wird wohl nie ohne Lampenfieber abgehen. Zumindest nicht bei mir. Aber ohne Mut bekommt man auch keine Belohnung. Und in diesem Falle tut die Schokolierung als Belohnung soooooo gut.
Liebe Edith,
Selbst jetzt hier beim Lesen hättest Du eine Stecknadel fallen hören. Du hast mich total in Deine Geschichte gezogen. So nachvollziehbar, nachfühlbar. Danke dafür!
Und nun wünsche ich Dir viele, viele weitere Lesungen vor interessiertem Publikum. Schön 🤩
Oh. Vielen herzlichen Dank, liebe Christine. Jetzt darf ich mich noch einmal schokolieren. Ich kann also nicht nur gut lesen, sondern auch gut schreiben.
Hi Edith,
was ein steiniger Weg. Die ehemalige Kollegin samt Techniker können einem nur leid tun, denn sie scheinen selbst über keine anderen Erfahrungen zu verfügen. Schade, dass du nicht mir einem satten „Ja, will ich – ganz groß!“ antworten konntest. Mir wäre es wahrscheinlich auch nicht gelungen.
Umso besser, dass du nicht abgesagt hast, dass du dich der Lesung gestellt hast.
Ich gratuliere herzlich.
ramona
Liebe Ramona,
vielen Dank für dein Verständnis, dass es nicht so einfach ist, sich selbst mit Schokolade zu überziehen. Um so lieber nehme ich dein Lob an und fühle mich jetzt rundum mit Schokolade gesüßt.
Liebe Edith,
es war spürbar, wie sehr du dich gewehrt hast, wie bitter dir die Schokolade zunächst geschmeckt hat und wie süß sie am Ende doch ist. Du kannst wunderbar vorlesen und du wirst es bestimmt wieder tun.
Alles Liebe
Stephanie
Liebe Stephanie,
natürlich werde ich es wieder tun. Du weißt doch, wer einmal damit angefangen hat, kann damit nicht mehr aufhören.