Plötzlich war es ganz einfach

Legohaus

Ich lasse mich auf meinen Sessel plumsen. Dass es plötzlich ganz einfach war, das hätte ich mir nicht im Traum einfallen lassen. Jetzt hatte ich ihn. Meinen eigenen Raum. Meinen eigenen Kreativraum.

Angesprungen hatte mich der Traum schon in meiner jungen Teenagerzeit. Ich hatte die Angewohnheit, mich auf dem Tisch auszubreiten. Das war zum Beispiel immer dann, wenn ich Hausaufgaben machte, oder mich mit irgendetwas interessantem beschäftigte. Aber wenn ich mich im Raum ausbreitete, war er für andere Menschen belegt. Und das war ein Problem für die anderen der Familie. Familie, das waren meine Eltern, meine vier Geschwistern und ich und unsere Oma. Warum sollte also ausgerechnet ich als Zweitgeborene Anspruch auf einen eigenen Raum erheben? Pustekuchen. Zuvor mussten auch die Bedürfnisse aller anderen Hausbewohner berücksichtigt werden.

Der Verzicht auf einen eigenen Raum war für mich eigentlich gar nicht schwer. Ich konnte mich ja draußen in der Natur ausbreiten und fand das auch sehr schön. Wenn ich mich im Haus am großen Familientisch ausgebreitet hatte, musste ich eben meine Sachen immer wieder aufräumen. Das Lustige an diesem Aufräumen war, dass ich lernte, meine eigene Ordnung zu finden und zu halten.

Als ich geheiratet habe, war mir zu Beginn ein eigener Raum gar nicht so wichtig. Immer nahe beieinander zu sein schien mir damals kein Problem. Jung, verliebt und voller Träume … Die Wohnungen, die wir dann so nacheinander hatten, wuchsen mit den familiären Umständen, wie man das damals so schön gesagt hat. Praktisch war das einfach, dass wir mit der Zahl der Kinder, die nacheinander kamen, unsere Wohnung entsprechend vergrößert haben. Nur für mich selbst gab es keinen eigenen Raum. Wozu auch. Ich war mit unseren 4 Töchtern beschäftigt, die mich, als sie klein waren, ganz schön auf Trab hielten.

Als es dann wirklich eng wurde, beschlossen mein Mann und ich, uns ein Haus mit kleinem Garten zu kaufen. Das Haus durfte aber nur so groß sein, dass wir uns das auch leisten konnten. Und so war das „Zünglein an der Waage“ ein Raum, den ich gerne für mich alleine gehabt hätte. Aus der Traum. Zumindest für viele Jahre.

Aber auch hier nahm ich als Alternative die Natur in Anspruch um mich auszubreiten. Dazu hatten wir sogar einen Hund in der Kinder- und Jugendlichenphase unserer Töchter. Und unsere Mädchen hatten je ein eigenes Zimmer. Sie sollten sich doch entfalten können und ihren eigenen Raum so nutzen, wie es ihnen gefiel. Das war mir jedenfalls wichtig, und so verzichtete ich. Nicht immer gerne. Aber meistens.

In unserer WG gehörten mir eigentlich mehrere Räume. Die Küche, der Hauswirtschaftsraum und der große Wohn- und Essbereich. Ich konnte hier schalten und walten, wie ich wollte. Kochen, putzen, waschen, aufräumen, dekorieren, umräumen, und so weiter. Alles für die Familie. Wer sagt denn, dass man dabei nicht kreativ sein kann und sich entfalten?

😉

Natürlich niemand. Es wollen ja alle schön haben um sich herum. Nur ein bisschen hat mir mein eigener Raum gefehlt. Nämlich dann, wenn ich mich vom Trubel des Familienalltages zurückziehen wollte. Manches Mal dachte ich: Hätte ich doch …, dann könnte ich … Aber es war nicht so und deshalb nahm ich es so.

Als sich dann die Älteste so langsam anschickte wegen ihrer Berufsausbildung auszuziehen und die Zweite ein Auslandsjahr anvisierte, sah ich meinen Traum fast in greifbarer Nähe. Ich begann Ideen zu sammeln und Pläne zu machen. Und dann stand ein Umzug an. Das Schicksal hatte Roulette gespielt.

Am neuen Ort, im neuen Haus, sah ich dann meinen Raum. Klein, fein und hell. Den könnte ich ganz alleine für mich herrichten, schoss es mir durch den Kopf. So wie ich es gerne wollte. Also plante ich. Welche Tapete passte zu mir? Was würde dem Raum die richtige Atmosphäre geben? Welches Möbel stellte ich hinein? Ich war glücklich und bald darauf war der Raum fertig, damit ich einziehen und mich darin wohl fühlen konnte.

Der Gedanke war noch nicht in die Tat umgesetzt, da legte sich ein „Notfall“ vor unsere Haustüre. Ein Mann aus der Bekanntschaft fragte an, ob er bei uns wohnen könne, bis er was Neues gefunden hätte. Seine Frau habe ihn rausgeschmissen, so seine Aussage. Naja. Der Platz ist noch frei und für eine Weile wird es schon gehen. Zähneknirschend legte ich meinen Traum wieder auf Eis. Aber der „arme Mann“ blockierte länger als ich gedacht hatte, meinen Raum. Nach weit mehr als einem Jahr, war er, wie durch ein Wunder, endlich weg. Aber dann gefiel mir mein Raum nicht mehr. Er hatte den Geruch und die Aura des Mannes, der mir nach so langer, dreister Inanspruchnahme meines Raumes durchaus nicht mehr sympathisch war. Ich wollte den Raum wieder anders gestalten.

Und dann kam die nette Dame. Sie brauchte unbedingt einen Platz für ihre Umzugskartons. Sie hatte in eine kleinere Wohnung umziehen müssen und konnte nicht alles unterbringen. Dumm und gutmütig sagte ich ja, weil ich dachte, dass das nicht lange dauern würde. Und Schwups. Im Handumdrehen war mein Raum wieder belegt. Dass diese Umzugskartons erst nach mehr als fünf Jahren wieder abgeholt wurden, das wurmte mich gewaltig. Immer, wenn ich meinen Raum betrat, der jetzt zu einer Abstellkammer verkommen war, überkam mich Wut und Zorn.

Wann würde ich endlich meinen eigenen Raum bekommen? Würde ich immer so naiv und dumm sein und „bedürftige“ Menschen in meinen Raum reinlassen?

Unsere Kinder waren längst alle aus dem Haus, und es müsste doch möglich sein, jetzt endlich … Ich begann vorsichtig zu planen und sah vor meinem inneren Auge, wie es werden würde.

Da warf mir das Schicksal eine neue Aufgabe zu. Ein Angehöriger durfte gepflegt werden. Nun waren sowohl meine räumlichen als auch meine zeitlichen Ressourcen gebunden. Traurig gab ich meinen Traum vom eigenen Raum auf. Dann eben jetzt nicht, dachte ich. Wer weiß, wie lange das dauert.

Überraschend schnell starb dann der Angehörige. Damit hätte ich nicht gerechnet. Aber es machte mir den Weg frei, meinen eigenen Raum doch noch zu gestalten. Nach einiger Zeit kramte ich meine Pläne wieder hervor und machte mich an die Arbeit. Tapeten, Kleister und Farbe besorgen. Gardinen für das Südfenster. Und Möbel, die nur mir gefielen und meinem Ordnungs- und Schönheitssinn entsprachen. Einige Tage war ich von morgens bis abends beschäftigt und bewegte mich im Arbeitskittel eines Malers.

Dann endlich wurde mein Raum fertig und ich konnte „einziehen“. Nach fast 50 Jahren hatte sich mein Traum erfüllt. Das Warten darauf war schwerer, als die Arbeit des Renovierens. Aber es hat sich gelohnt.

Von meinem Sessel aus blicke ich in den Raum. Hier fühle ich mich wohl. Hier will ich bleiben und mich entfalten. Kreativ entfalten. Und wenn jetzt noch jemand kommt, der meint, mir meinen Raum abspenstig zu machen, dann bekommt er von mir einen Tritt, dass er wieder hinausfliegt. Gut. Vielleicht auch nicht. Aber ich habe mir vorgenommen, dieses Mal meinen eigenen Raum zu verteidigen mit allen meinen Mitteln. Vielleicht ist das ja einfacher, als ich denke.

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Hast du dir auch einmal einen Traum erfüllt, auf den du sehr lange warten musstest, bis es plötzlich ganz einfach wurde? Schreib mir doch gerne einen Kommentar.

—–

Bei der Blognacht mit Anna Koschinski war ich kreativ. In meinem Raum.

3 Kommentare
  1. Alexandra
    Alexandra sagte:

    Liebe Edith, ich fühle mit dir 😅. Ich hatte zwar schon mal einen kreativen Raum. Der musste durch die Kinder weichen und nun darf ich wieder einige Jahre warten, bis ich ihn wieder zurück bekomme. Wie schön, dass dich deine Geduld ausgezahlt hat. Liebe Grüße Alexandra

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  1. […] Edith Leistner schreibt über den Traum vom eigenen Kreativraum: Plötzlich war es ganz einfach […]

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