Das Friedensangebot

Bedrückt verlasse ich den Friedhof. Schon wieder ist jemand in meinem näheren Umfeld gestorben. Da zieht mir Kraft. Ich will mich wieder dem Leben zuwenden. Froh in die Zukunft schauen. Beim nach Hause gehen führt mich mein Weg an der Rückseite eines Kindergartens vorbei. Gleich geht es mir ein ganzes Stück besser, denn Kinder sind für mich das Symbol Nummer eins für Zukunft. Ich bleibe stehen und atme tief ein.

Am liebsten würde ich die Kinder ein bisschen beobachten und Zukunft tanken. Warum eigentlich nicht, überlege ich, und bleibe stehen. Dann suche mir in der Hecke, die den Kindergarten umgibt, ein kleines Guckloch. Außer einer Bausteinkiste und zwei sitzende Kinder kann ich nicht viel sehen. Diese beiden Kinder ziehen jedoch meine Aufmerksamkeit an.

Das größere von beiden ist wahrscheinlich ein Junge. Er trägt einen grünen Pullover. Ganz in sein Spiel vertieft greift er immer wieder in eine große Kiste mit Holzbausteinen. Schon hat er einen sehr hohen Turm gebaut.

Auch der kleinere von beiden ist wahrscheinlich ein Junge. Da bin ich mir aber nicht sicher, denn das Kind trägt ein gelbes T-Shirt mit einer Applikation drauf, die ich nicht erkennen kann. Ich schätze, dass das kleinere Kind etwa zwei Jahre jünger ist als das große.

Wie sie friedlich nebeneinander spielen, denke ich in meinem Beobachtungsverteck.

Da registriere ich, dass das kleinere von beiden gedankenverloren immer näher an den großen Bauklötzeturm kommt. Oh. Der größere Junge scheint es aber zu bemerken und für seinen Turm zu fürchten. Vorsichtig geht er um sein Bauwerk herum und schiebt das Kleine ein ganzes Stück weg. Ich wundere mich, dass das Kleine das einfach mit sich geschehen lässt.

Kurz bemerke ich, dass es mir auf meinem Beobachtungsposten langsam kalt wird. Aber ich kann mich noch nicht trennen.

Wie ich weiter durch die Lücke in der Hecke linse merke ich, dass sich das Kleinere wieder dem Turm nähert. Ich vermute, dass der Größere wie beim ersten Mal reagiert, reiße aber Mund und Augen auf, als es nicht so ist. Der Junge steht auf, greift in Sekundenschnelle mit beiden Händen den Arm des Kleineren und beißt hinein. Au. Das muss weh getan haben. Sogar von hier aus kann ich den Abdruck der Zähnchen sehen.

Das Kind läuft weinend weg. In meinem Versteck überlege ich, was jetzt passiert. Wenn ich da drinnen wäre, würde ich wahrscheinlich das größere Kind ermahnen. Oder auch erwirken, dass es sich bei dem Kleinen entschuldigt. Und wenn ich selbst das gebissene Kind gewesen wäre, dann hätte ich dem anderen wahrscheinlich etwas übergebraten. Die Kämpferin für Gerechtigkeit regt sich heftig in mir. …

Ich will gerade meinen Beobachtungsposten verlassen, da kommt das kleinere Kind mit dem gelben T-Shirt zurück. Die Spuren der Tränchen in den Augen kann ich noch erkennen. Das letzte was ich sehen kann ist, dass es in die Bausteinkiste greift, etwas herausnimmt und dem Größeren hinhält.

Voller Staunen trenne ich mich von dem Bild der Zukunftshoffnung und setze meinen Weg fort. Das kleine Kind hat mir eine Lehre gegeben. Wäre es nicht immer der bessere Weg, dem Gegenüber ein Friedensangebot zu machen? Vor allem zu Lebzeiten. Denn wenn einer von beiden auf dem Friedhof liegt ist es zu spät. Was meinst du dazu? Schreibe mir gerne einen Kommentar.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert