Stoffherz mit Rosen und Ringen

Langsam knöpft er sein weißes Hemd zu. Heute ist der Tag. Er soll hübsch aussehen, sagen seine Frau und die Kinder. Dabei mag er lieber in Arbeitskleidung gehen. Da fühlt er sich wohler, als in so einem Festtagsanzug. Sein Spiegelbild zeigt ihm einen grauhaarigen, fast glatzköpfigen Mann mit Bierbauchanatz. Skeptisch beäugt er sich und ruckelt die dunkelblaue Anzugshose zurecht. Dann wirft er die Hosenträger über und schnippst sie zu. Eins, zwei, drei, vier. So. Jetzt sitzt die Hose so, wie er es gerne möchte.

Jetzt noch die passende Krawatte. Oder doch lieber eine Fliege? Ach. Wenn schon, dann nehme ich die Krawatte, denkt er und zieht einen schicken Schlips mit zarter, goldener Verzierung aus dem Schrank und legt ihn an. Damit wandern seine Gedanken zu seiner Frau, die ihm die Krawatte zu einem anderen festlichen Anlass mal geschenkt hatte. Sie würde sich zum heutigen Anlass sicher auch sehr hübsch machen. Wo war sie eigentlich? Irgendwo im Haus musste sie doch stecken!

Mit diesem Gedanken schlüpft er in das Sakko und geht ins Bad, um die letzten Schönheitsarbeiten an sich auszuführen. So. Fertig. Jetzt konnte es losgehen.

„Ach, da bist du ja.“ Seine Frau kommt ihm entgegen. Es bleibt ihm fast der Atem weg, so schön ist sie heute. Alles ebenmäßig und wunderbar aufeinander abgestimmt. Sie hakt sich bei ihm ein und gemeinsam gehen sie zur Kirche deren Glocken schon zum Festgottesdienst rufen. Das Portal ist heute mit weißen Rosen und einer goldenen 50 geschmückt. Ja, vor 50 Jahren waren er und seine Frau auch diesen Weg gegangen. Lang, lang war es her. Viele schöne und schwere Stunden hatten er und seine Frau seitdem gemeinsam erlebt.

Er sieht liebevoll auf sie herab und drückt sanft ihren Arm, während sie durch den Mittelgang der Kirche gehen, der rechts und links von Festgästen gesäumt ist. Wie damals. Und wie damals, so ist auch heute ganz vorne ihr gemeinsamer Platz. Nur eines hat sich verändert. Es predigt ein anderer Pfarrer.

Die Kinder gestalten das Programm mit Rückblicken auf die gemeinsamen Ehejahre. In seinen Gedanken kommen und gehen viele Erinnerungsbruchstücke bis der Pfarrer die Kanzel betritt. Nun ist er voll und ganz bei der Sache. Er kennt seinen Trautext genau und auch die übliche Auslegung dazu. Aber was ist denn das? Der Pfarrer liest zwar den Text, legt ihn aber völlig anders aus, als er es gewohnt ist. Fast will er sich darüber ärgern. Dann entscheidet er, es nicht zu tun. In den vielen Jahren seines Lebens hat er gelernt, dass er alleine für seine guten oder schlechten Gedanken zuständig ist.

Als Höhepunkt ist geplant, dass sie sich gegenseitig noch etwas sagen, was sie unbedingt möchten, was der Andere wissen soll. Er weiß schon, dass er zu seiner Frau sagen wird, dass er sie noch immer liebt. Was sie wohl zu ihm sagen wird?

Dann ist es soweit. Sie beide stehen auf und drehen sich einander zu. In diesem Moment blendet er alles um sich herum aus. Jetzt gibt es nur noch ihn und seine Frau. Nachdem er ihr gesagt hat, dass er sie nach so vielen Jahren immer noch liebt, stehen kurz einige Augenblicke des Schweigens zwischen ihnen. Sie atmet tief ein und sagt dann laut und deutlich:

„Du bist das schönste Geschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe.“

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Es war wieder einmal #Blognacht mit Anna. Das ist Zeit für meine Kreativität und die Möglichkeit, über den Impuls nachzudenken, den es in jeder Blognacht gibt. Heute hieß der Impuls: Mein schönstes Geschenk. Dieser Artikel war nicht mein, sondern sein Geschenk. Ich möchte es gerne mit dir teilen. Gibt es für dich auch eine Person, die für dich das schönste Geschenk bedeutet? Ich freue mich über deinen Kommentar.

Arbeitszeitverordnungshinweis

Meistens geht er gerne zur Arbeit. Nur manchmal wundert er sich, wie sich einfache Dinge für manche Kollegin zu großen Problemen stilisieren.

Gestern Abend hatte er mal wieder einen Termin außerhalb seiner Bürozeiten und er bereitete sich entsprechend vor. Das Kundengespräch dauerte länger und ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er 11 Stunden gearbeitet hatte. Für ihn bedeutete das, dass er eine Wiedergutschrift der geleisteten Arbeit verlangen musste, denn durch die im Computer eingegebene Arbeitszeitverordnung wurde ihm mindestens eine Stunde gekürzt.

Er veranlasst deshalb heute gleich die Arbeitszeitkontingentkorrektur.

Die Genehmigung bei seinem Vorgesetzten geht schnell. Dieser weiß ja, dass der Termin wichtig war. Jetzt nur noch die Kollegin aus der Personalabteilung informieren, damit sie die Stunden im Computer wieder gutschreiben kann. Damit es schneller geht, schreibt er eine kurze E-Mail mit folgendem Inhalt:

Liebe Kollegin. Bitte schreibe mir die eine Stunde wieder gut, die gestern bei dem Termin mit dem Kunden entstanden ist. Vielen Dank und liebe Grüße.

Statt eines kurzen: ‚OK. Mach ich,‘ kam folgende Antwort zurück:

Lieber Kollege. Ich erinnere mich, dass ich dir schon so oft gesagt habe, dass du Abends nicht mehr so lange arbeiten sollst. Nicht etwa, weil es dir schaden würde, sondern weil du in dieser letzten Stunde, die wegen der Arbeitszeitverordnung gekürzt wird, nicht versichert bist. Wenn dann etwas passieren würde, würde das ein ganz furchtbar schreckliches Bild auf unseren Arbeitgeber werfen. Mach das in Zukunft nicht mehr! Gruß, die Kollegin.

Beim Lesen dieser Zeilen bleibt ihm vor Überraschung der Mund offen stehen. Die Reaktion der Kollegin ist ihm unverständlich. Er greift deshalb in die Tastatur und formuliert eine Antwort.

Liebe Kollegin. Soll ich also in Zukunft, wenn ich bei einem Kunden bin, immer auf die Uhr schauen und das Gespräch dann mit dem Hinweis auf die Arbeitszeitverordnung sofort beenden? Gruß, der Kollege.

Er meint zwar, dass man den ironischen Unterton in seiner Frage lesen könne, aber dem ist nicht der Fall. Die Antwort kommt dann prompt.

Nein, lieber Kollege. Natürlich sollst du das nicht machen. Aber dann arbeitest du eben am Tag weniger, wenn du abends einen Termin hast. Gruß

Als er das liest, entgleisen ihm die Gesichtszüge. Ihm fällt deshalb nur eine Erwiderung ein und die lautet: „Jawoll, liebe Kollegin.“

Und insgeheim denkt er: So werde ich das in Zukunft wohl machen. Aber dann wird sich die Kollegin schön wundern, wenn ich im Büro nicht mehr anwesend bin. Für meine Termine interessiert sie sich ja keinen Pfifferling.

Nachsatz:

Ein ganz freundlicher Herr hat mit die Fakten zu dieser Geschichte zur Verfügung gestellt und ich durfte mit seinem Einverständnis daraus einen Blogartikel verfassen.

Hast du auch schon einmal eine Konversation gehabt, bei der du hinterher gedacht hast, dass man voll aneinander vorbeigeredet hat? Schreib mir doch gerne einen Kommentar.

Schon lange habe ich mich auf diesen Urlaub gefreut. Eine mir bisher unbekannte Ecke Deutschlands habe ich mir ausgesucht, die gar nicht wirklich weit von unserem Zuhause entfernt ist. Aber über Deutschland brütet seit Wochen eine starke Hitze.

„Wollen wir jetzt fahren, oder warten wir lieber, bis es etwas abgekühlt hat?“ Mein Mann lässt mich laut an seinen Gedanken teilhaben.

„So weit ist es ja nicht“, kontere ich. „Außerdem haben wir ja eine Klimaanlage im Auto. Das wird schon nicht so heiß“.

Ich bin von meinen Worten überzeugt. Aber es wird heiß. Heißer als ich es mir vorgestellt habe. Sogar im klimagekühlten Auto spüre ich wie mir die Schweißtropfen Milimeter für Milimeter an der Wirbelsäule entlang laufen. Als wir ankommen, habe ich das dringende Bedürfnis, mich zu duschen und neue Kleidung anzuziehen.

Gleich nach dem Einchecken in unsere Ferienwohnung inspiziere ich die Dusche von außen. Sie scheint mir etwas klein. Aber ich kann mich ja täuschen. Bei der Hitze ist mit alles egal. Hauptsache ein bisschen warmes Wasser. Fürs duschen mit ganz kaltem Wasser kann ich mich durchaus nicht begeistern.

Es dauert nur wenige Minuten, dann stehe ich im Eva-Kostüm vor der faltbaren Duschkabinentür. Mit Schwung öffne ich und stoße dann einen schrillen Schrei aus.

„Mach die Spinne hier weg! Mach die Spinne weg!“

Total gelassen kommt mein Mann mit einem Lappen um die Ecke. Er steht vollständig angezogen da und grinst vor sich hin. Dann entfernt er sich aus dem kleinen Badezimmer um die Spinne zu entsorgen.

Nun will ich doch endlich duschen. Ich schaue genau in jede untere Ecke, ob sich nicht doch noch so ein achtbeiniges Getier hier befindet, aber sie scheint ein Einzelexemplar gewesen zu sein.

Endlich kann ich die Duschtür schließen und den Hebel fürs Wasser öffnen. Er klemmt ein bisschen und ich versuche es mit etwas mehr Kraft.

„Iiiiih!“ Ein kräftiger Strahl eiskalten Wassers trifft meinen oberen Rücken. Reflexartig mache ich den Hebel sofort wieder zu. Dann nehme ich den Brausekopf von der Wand, damit mir das kein zweites Mal passiert. Wenn schon eiskalt, dann wenigstens nur die Füße.

Jetzt habe ich den Dreh raus, dass nicht so viel Wasser auf einmal kommt. Aber wie bekomme ich warmes Wasser? Ich kann drehen, wie ich will, es kommt keines.

„Dusche ich jetzt mit kaltem Wasser oder lasse ich es ganz sein?“ Während ich noch überlege nimmt mein Körper die Umgebungstemperatur an und es fühlt sich an, als hätte ich schon überall Gänsehaut. Ich möchte einfach nur noch duschen. Also drehe ich mit einem verzweifelten Seufzer das kalte Wasser auf.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich jemals so schnell eingeseift und wieder abgeduscht habe. Nichts wie wieder raus. Da rutsche ich aus.

„Aua!“ Ich reibe mir meinen Kopf. Da fällt mein Blick auf ein kleines Schild in der Ecke. Dort steht zu lesen:

Lieber Gast. Bitte drücken Sie diesen roten Knopf etwa eine halbe Stunde bevor Sie duschen möchten. Unser Boiler spendet Ihnen dann gewiss reichlich warmes Wasser. Vielen Dank.

Das hätte ich gerne früher gewusst denke ich und lege einen Waschlappen mit kaltem Wasser auf meinen malträtierten Kopf.

Diese Geschichte wäre heute nicht von mir umgesetzt worden, wenn Anna nicht den Impuls in der Blognacht und meine Tochter nicht die Idee dazu geliefert hätte. Vielen Dank an beide.

Hast du so etwas auch schon mal erlebt? Schreib es mir doch gerne in einem Kommentar.

Eine Krone macht noch keinen König

Erschöpft sitze ich im halbdunklen Raum und hänge den Kopf. Heute geht aber wirklich alles schief, denke ich, und stöhne laut. Da kommt mir ein Satz in den Sinn, den ich irgendwo gelesen habe. Er lautet: „Trainiere deinen Sinn für Humor wie einen Muskel.“ Ich schnaufe aus und stampfe auf den Boden. Knarz, macht die Holzdiele und es scheint, als würde sie sagen:

„Probiere es doch wenigstens mal aus.“

Gut, denke ich, und höre, wie mein Mann pfeifend die Treppe hoch kommt. Er begrüßt mich mit einem Lächeln und unterbricht dabei sein Pfeifen nicht. Immer noch etwas knurrig probiere ich vorsichtig meinen Muskel für Humor und frage ihn:

„Sag mal, pfeifst du heute aus dem letzten Loch oder soll das ein Ohrwurm werden?“

Er legt den Kopf halb schief und grinst mich an. Dabei sehe ich die kleinen Knopfohrhörer und meine Mundwikel gehen nach oben. Es scheint ein Ohrwurm zu werden, denn ich erkenne, was er pfeift. Die Melodie ist leicht und setzt sich bei mir fest. Ich kann nicht anders, als in das Gepfeife meines Mannes einzustimmen. Das klingt so lustig, dass wir beide anfangen zu lachen. Der Knoten bei mir ist geplatzt und ich freue mich, dass der Muskel für den Humor funktioniert hat.

Aber in der Nacht darauf kann ich schlecht schlafen. Irgendetwas ist entzündet. Es pocht und pocht in meinem Gesicht. Zahnschmerzen. Ich wälze mich mich im Bett hin und her. Und mit dem Morgengrauen graut es mir auch vor dem kommenden Tag, denn der Zahnarztbesuch ist unausweichlich. Da blinzelt mich mein Mann an und meint schläfrig:

„Morgenstund hat Gold im Mund.“

Mit schief gezogenen Mundwinkeln kann ich nur noch mit verzerrter Stimme antworten:

„Zuviel Gold! Ich muss zum Zahnarzt.“

Später quäle ich mich zu meinem Nottermin in die Praxis.

„Ich muss Ihnen Ihre Krone nehmen, die Entzündung ist in einem Loch darunter.“

Ich bin entsetzt über dieser erschütternde Wahrheit des Mediziners. Aber es muss sein. Dann tut der Zahnarzt seine Arbeit. Fast zwei Stunden später gehe ich mit dickem Gesicht und sehr erschöpft nach Hause. Meine dämmrige Stubenecke zieht mich magisch an und ich lasse mich dort nieder.

Mit gerunzelter Stirn brumme ich in mich hinein, dass es mit dem Humor wohl doch nicht so geklappt hat. Dabei habe ich eigentlich schon den Sinn dafür. Vielleicht funktioniert das nur im Zusammenspiel mit Menschen um mich herum, die mir mit dem Humor auf die Sprünge helfen? Alleine mit mir, einem Eisbeutel auf der geschwollenen Wange und Schmerzen, da will sich mein Lachmuskel einfach nicht bewegen.

Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. Mama ist dran. Sie erzählt ein bisschen von sich und zitiert dann aus heiterem Himmel den Spruch

„Nach dem Hinfallen wieder aufstehen, Krönchen richten und dann weitergehen.“

Und weil meine Mama von meinen Zahnschmerzen bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts gewusst hatt, ist ihr Spruch wie ein Reiz, der meinen Muskel für den Humor wieder in Bewegung bringt.

„Nein Mama, dieses Mal richte ich mein Krönchen nicht selbst. Dieses Mal macht es der Zahnarzt.“ Und dann schildere ich ihr von meinem Malheur mit meinen Zähnen. Die schlechte Laune ist wie verflogen. Auch Mama hat es geschafft, meinen Humormuskel anzuregen.

Wie ist das bei dir? Hast du auch Menschen, die deinen Sinn für Humor verstehen und mit dir gemeinsam den Muskel dafür trainieren können? Schreib es mir doch gerne in einen Kommentar.

offenes Buch

Ich halte einen Brief in der Hand und muss dreimal schlucken. Da steht schwarz auf weiß, dass ich hier in der Stadt von meinen eigenen Texten etwas vorlesen soll. Ich freue mich darüber. Aber. …

„Kannst du das überhaupt?“ fragt mich mein innerer Blockierer und schiebt gleich noch hinterher: „Sei mal etwas bescheidener. Deine Texte will doch sowieso niemand lesen. Da hilft es auch nicht, wenn du sie selbst vorliest.“ Und wusch … ist die Freude weg.

Schon will ich eine Absage formulieren, da klingelt das Telefon. Die Verfasserin des Briefes, Frau Baum, ruft an und will schon meine Antwort wissen. Ich bringe alle meine Argumente vor, von denen ich hoffe, dass sie ziehen, aber die Dame lässt keine Widerrede zu. Mit einem tiefen Seufzer sage ich dann doch zu. Kurz werde ich noch über den Termin und den Ort informiert, an dem die Lesung stattfinden soll.

„Aus dieser Nummer kommst du jetzt nicht mehr raus“, denke ich und eine schlaflose Nacht folgt der anderen. Da sehe ich in der Zeitung eine Anzeige, die über meine Lesung informiert. Jetzt wird es Zeit, dass ich einige meiner Texte aussuche, die ich dann lesen werde.

Doch nicht nur ich habe die Anzeige in der Zeitung gelesen. Eine ehemalige Kollegin ruft mich an und flötet mit aufgesetzt freundlicher Stimme ins Telefon: „Na. Du willst ja wohl groß herauskommen. Ob das was wird? Du hattest doch immer eine so leise Stimme und konntest dich nie durchsetzen.“ Mein Magen krampft sich bei diesen Worten zusammen und nach dem Ende des Telefonates fange ich an zu weinen. Lange dauert es, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Frau Baum meldet sich wieder und spricht mit mir noch einige Details ab. Ein Mikrofon soll mir zur Verfügung gestellt werden und ein Techniker wird mir zur Seite stehen. Ich bin erleichtert und bekomme neuen Mut. Der große Spiegel in unserer Wohnung wird nun zweckentfremdet, denn ich fange an, laut vorzulesen und mich dabei zu beobachten. Es soll mir ja kein Fehler passieren. Das wäre der blanke Horror.

Mit schweißnassen Händen und zitternden Knien betrete ich zur Generalprobe den vorbereiteten Saal. Der Techniker ist da und testet gerade das Mikrofon. Die Stühle sind schon gestellt für die Veranstaltung, die am nächsten Abend stattfinden soll. Ich beginne. Dann wird meine Stimme brüchig und ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Der Hustenanfall will nicht enden. Am Schluss ist der Techniker völlig genervt und meint: „Wenn das morgen auch so geht, dann wird es wohl ein reines Desaster.“ Hustend und mit Tränen in den Augen verabschiede ich mich.

In der Nacht kann ich sehr schlecht schlafen und falle erst in den Morgenstunden in einen Erschöpfungsschlaf. Da reißt mich das Telefon aus der einzigen Tiefschlafphase dieser Nacht. Frau Baum ist dran und verkündet mir, dass meine Lesung heute Abend ausfallen würde, denn es wäre in dem Saal, in dem sie stattfinden hätte sollen, ein Wasserschaden aufgetreten, der erst einmal behoben werden müsse. „Ich finde aber auf jeden Fall einen Ersatztermin für Sie“, ermuntert sie mich und meint, damit würde sie mich trösten. Weit gefehlt. Denn eigentlich will ich jetzt nicht mehr vorlesen.

Aber Frau Baum scheint nicht aufgeben zu wollen. Statt einer Zeitungsanzeige hängen jetzt mehrere Plakate in der Stadt und machen meine Lesung bekannt. Es soll in der Stadtkirche am Sonntagabend stattfinden. „So schnell?“ denke ich und habe gar keine Zeit mehr für eine extra Vorbereitung, geschweige denn für Lampenfieber. Schon ist es nämlich Sonntagabend und ich stehe auf einer extra für mich vorbereiteten Bühne mit Stehtisch vor mir, um meine Texte abzulegen. Auch ein Mikrofon ist aufgebaut und an der Technik sitzt dieses Mal eine junge Frau.

Nur noch kurz haben meine Knie Zeit zum Zittern, dann ist es soweit, dass ich beginnen kann. Fließend, klar und rein klingt meine Stimme durch den Kirchensaal. Es ist, als würde die Akustik meine Stimme in Atmosphäre umwandeln. Kurz lasse ich meinen Blick über die Zuhörer wandern. Alle hängen mit offenen Augen und manche auch mit offenem Mund an meinen Lippen. Es ist so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Ich nehme den Augenblick tief in mich auf und lese ruhig weiter bis zum Schluss.

Frau Baum verabschiedet dann die Zuhörer und gibt ihnen Gelegenheit, noch mit mir zu sprechen. Ich ernte manches Lob, das mich mit einem bescheidenen Erröten zurücklässt.

Vorlesen kann ich gut. Das wird mir immer wieder bestätigt. Die obige Geschichte ist in der #Blognacht mit Anna entstanden und ich freue mich darüber, wenn sie dir gefallen hat und du mir einen Kommentar hinterlässt.

Freiheit am Ostseestrand

Ich bin an meinem Lieblingsort an der Ostsee. Der kleine Erholungort ist noch wie verträumt. Jetzt in der Nebensaison ist der große Trubel der Sommertouristen nicht zu spüren, die sonst hier die Strandpromenade entlang gehen. Hier zu sein, das ist eine Freiheit, die ich mir ab und zu gönne. Und dank dem Impuls von Anna in der Blognacht, wurde er heute verschriftlicht.

Es ist kaum zu glauben, dass es nach dem gestrigen Sturm so still ist. Ich gehe am Strand entlang und mein Blick geht weit über das ruhige Wasser. Ich fühle die Freiheit, die ich immer am Meer empfinde.

Da entdecke ich etwas weiter entfernt einen großen Stein, der mir geeignet scheint, ein bisschen darauf zu sitzen und zu verweilen. Als ich bei meinem ausgewählten Stein ankomme, merke ich, dass er vollständig im Wasser steht. Das hatte ich von der Ferne nicht gesehen.

Will ich jetzt weiter meinem Freiheitsbedürfnis nachgehen, oder siegt mal wieder mein Verstand? Heimtückisch flüstert er mir ins Ohr. „Du wirst nass werden, wenn du dich da drauf setzt. Und denk dran, der Stein ist kalt. Du wirst dir sicher eine Blasenentzündung holen.“ Dann schiebt er noch hinterher: „Lass es doch bleiben. Du hast doch für heute wahrlich schon genug Freiheit gehabt.“

Doch heute lasse ich mich nicht durch die Bedenken meines Verstandes einschüchtern. Ich überlege, wie ich trotzdem auf meinen ausgewählten Stein sitzen kann. Mit prüfendem Blick inspiziere ich einen kleinen Stein, der davor liegt. Mit dem richtigen Winkel könnte ich über diesen zu dem großen gelangen. Ich probiere es vorsichtig. Es klappt. Hurra. Ich habe mein Freiheitsplätzchen ergattert.

Da spüre ich, dass der Stein unter mir doch sehr kalt ist und das Argument mit der Blasenentzündung wird spürbar. Ich zögere kurz, dann nehme ich meine Wollmütze vom Kopf und setze mich drauf. Der leichte, kalte Wind spielt mir um die Ohren. Es ist sehr angenehm. Und nur 15 Zentimeter unter meinem Schuh spülen die Wellen um den Stein. Es könnte sein, dass ich nass werde, falls es mal eine größere Welle gibt. Aber dieses Risiko gehe ich heute ein. Jetzt will ich alles ausblenden und meine Freiheit genießen.

Ich ziehe das friedliche Bild in mich ein, das mich umgibt. Da ist der Sand, der heute in der frühen Märzsonne goldgelb leuchtet und gespickt ist mit vielen Häufchen winzig kleiner Muscheln. Kaum höre ich das immer wieder kehrende Geräusch der zurückweichenden Wellen. Um so deutlicher prägt sich der bizarre Ton ein, den tausende kleine Muscheln machen, wenn eine winzige Windbrise sie am Strand entlang bewegt.

Ich genieße meine Freiheit und lasse alle Gedanken los. Sie gehen mit jeder Welle zurück ins Meer. Wie liebe ich dieses Gefühl des Loslassens! Des leer werdens! Ganz bei mir selbst zu sein! Diese Freiheit, ich selbst sein zu können. Jetzt gerade in diesem Moment. Ich möchte noch lange verweilen und vergesse fast die Zeit. Erst als sich durch Magenknurren der Hunger meldet, verabschiede ich mich von dem Platz, an dem ich die Freiheit so deutlich spüren konnte.

Hattest du auch schon mal ein Erlebnis, bei dem du die Freiheit ganz besonders gespürt hast? Schreibe es mir doch gerne in einem Kommentar.

links fahren

Das ist eine Frage, die ich mir manches Mal stelle. Vor allem dann, wenn ich ein unsicheres Gefühl habe und wenn ich mich nicht so richtig wohl fühle. Heute hat Anna diese Frage als Impuls im Rahmen der #Blognacht gestellt. Beim Nachdenken über den Impuls habe ich festgestellt, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass ich mir diese Frage gestellt habe. Öfter sogar. Nämlich bei meiner letzten größeren Reise mit dem Auto.

Beim Autofahren ist Konzentration angesagt

Volle Konzentration. Meine Augen achten auf alles, was rund herum geschieht. Als Fahrerin eines großen Autos muss ich darauf achten, was die Mitarbeiter der Fährlinie anzeigen. Zusammen mit hunderten von anderen Fahrern, werde ich in den nächsten Minuten den Rumpf des Schiffes verlassen. Draußen ist es noch dunkel.

„Am besten fährst du hinter den anderen her“, denke ich, und reihe mich in die Autoschlange vor mir ein. Es gibt allerdings sowieso keine andere Wahl aus dem Hafengelände heraus zu kommen. Da gibt es plötzlich vor mir zwei Autoreihen. Wohin jetzt? Bin ich hier richtig? Sechs Zollbeamte stehen an einem großen Tor. Einer davon winkt mich nach ganz rechts. Was ist denn nun los?

Zollkontrolle

Autoscheiben runterlassen und Anweisungen annehmen. Ich tue mir ein bisschen schwer, die mir nicht ganz so geläufige Sprache in meinem Kopf zu übersetzen. Die regelmäßige Praxis dazu hatte ich schon lange nicht mehr. Und der Zollbeamte spricht so undeutlich. Aha. Jetzt habe ich es verstanden. Es heißt: „Motorhaube und Kofferraum aufmachen.“ Wie bitte? Ich schmuggle doch keine Menschen! Die würden doch sowieso nicht unter die Motorhaube passen. Und zu heiß wäre es dort auch. Vielleicht gibt es ja Leute, die das machen. Aber ich kann so nicht denken. Habe dazu überhaupt keine Fantasie.

Endlich werde ich von den Zollbeamten entlassen. Ein Seufzer der Erleichterung kommt tief aus meiner Brust. So. Wo fahre ich jetzt weiter? Es sind keine Autos mehr vor mir, denen ich nachfahren könnte. Gott sei Dank wird es heller. Die Sonne geht langsam auf. Auf der Straße stehen Hinweise. Schilder gibt es auch. Aber die sind so klein, dass ich sie beim Vorbeifahren fast nicht erkenne. Komisch. Bin ich hier überhaupt richtig?

Straßenatlas oder Navi

Laut meinem Routenplan muss ich nach Norden fahren. Aber zuerst einmal etwas in Richtung Westen. Doch wie lange? Ich hab doch vorher auf der Karte geguckt, damit ich die Orientierung nicht verliere! Wo bin ich jetzt hier? Bin ich hier richtig? Und wo kann ich anhalten? Ich muss auch mal müssen! In mir wird überall der Druck größer. Meine Konzentration lässt nach. Und dann endlich das Zeichen für eine Toilette gleich an der Autobahn. Wäre es eine normale Straße gewesen, hätte ich ja auch einfach am Straßenrand anhalten können. …

So. Ich bin erleichtert. Inzwischen hat sich auch das Navi endlich auf das andere Land umgestellt. Da kann ich jetzt einfach danach fahren, was mir die Stimme sagt. Gut. Nicht so ganz. Ich sollte schon selbst auf die Schilder achten.

Ups. Was ist denn das schon wieder? Das Navi zeigt an, dass ich auf einer grünen Wiese fahre. Bin ich hier richtig, oder soll ich auf das hören, was die Navi-Stimme sagt? Nein, ich bleibe besser auf meiner Strecke. Scheint ein neuer Autobahnabschnitt zu sein, den das Navi noch nicht kennt.

Ungefähr drei Stunden später bin ich am Ziel. Die Sonne scheint, es ist hell und ich kann alles erkennen. Trotzdem frage ich mich immer wieder: Bin ich hier richtig? Diese Frage werde ich mir während meines Aufenthaltes noch oft stellen. Erst auf dem europäischem Festland werde ich wieder damit aufhören. Es ist für mich schon ein komisches Gefühl, mit einem europäischen Auto auf Englands Straßen unterwegs zu sein.

Warst du auch schon in England mit deinem deutschen Auto unterwegs und kennst dieses Gefühl? Schreib es mir doch gerne in einem Kommentar.

Krankenwagen mit Blaulicht

Das ist ein einfaches Sprichwort, hat es aber in sich, wenn man, so wie ich, die Realität dieser Weisheit einmal am eigenen Leib gespürt hat.

So geschehen an jenem Tag, als ich, wie immer, gut geplant hatte. Zum Mittag sollten Gäste kommen. Alles war soweit vorbereitet, dass ich nur noch ein paar Kleinigkeiten machen musste, wie zum Beispiel den Tisch decken. Die Kinder spielten draußen auf dem Hof mit dem Nachbarskind. Also alles in bester Ordnung.

Innerlich lobte ich mich und klopfte mir kräftig auf die Schultern.

Plötzlich quitschten Autobremsen vor dem Haus. „Das könnte der Besuch sein, der vielleicht zu schnell am Haus vorbei gefahren war“, dachte ich. Schnell zum Fenster und gucken! Da kniete das Nachbarskind zusammen mit meinem größeren Mädchen am Straßenrand zwischen Autos und schauen mit bleichen Gesichtern auf meine Jüngste. Die liegt mit geschlossenen Augen auf dem Boden. 

Wenige Augenblicke später bin ich dort. Da macht meine Jüngste die Augen auf. „Gott sei Dank!“. Ein Blick auf das Kind und ich sehe, dass etwas gebrochen sein muss. Sofort fällt die Entscheidung: Notaufnahme im Krankenhaus. Genau in dem Moment kommt der Besuch an. Nun, der muss jetzt eben anders organisiert werden und ohne mich auskommen.

Und dann hieß es warten. An diesem Abend war noch lange nicht wieder alles in Ordnung mit dem Kind. Das dauerte länger.

Ist dir so etwas auch schon mal passiert? Schreibe es mir gerne in einem Kommentar.

Krankenwagen mit Blaulicht
Party-Effekte

Der optimal passende BH kann die Rettung aus einer peinlichen Situation sein. Ich habe es selbst erlebt. Damals auf der Party mit vielen anderen und mit Tanja.

Die große Party

Die Party ist in vollem Gange. Von meinem Platz in der Nische aus analysiere und beobachte ich. Viele Männer und Frauen sind auf der Tanzfläche. Auf den Tischen stehen Wein- Bier- und Sektgläser. Manche sind leer. Aber bei den meisten erkennt man, dass da noch viel getrunken werden kann. Barkeeper und DJ sind heute nicht die einzigen Leute, die schwitzen. Meine Augen schweifen über die Tanzgesellschaft.

Da entdecke ich Tanja. Ich kenne sie noch von früher. „Die hat auch ganz schön zugelegt, vor allem oben rum“, denke ich und betrachte ihr Outfit. Langes, eng anliegendes Kleid in dunkelrot mit Spaghettiträgern. Darunter blitzt ein BH in derselben Farbe. „Dafür, dass sie so kräftig ist, ist sie ganz schön sportlich. Und wie flott die sich bewegt …“ Meine Gedanken drehen sich weiter um Tanja, während ich faul auf meinem Stuhl sitze und sie beobachte.

Und dann passiert es!

„Ob die nicht merkt, dass ihre Spaghettiträger rutschen“, frage ich mich. So wild wie sie gerade tanzt, könnten sie bald ihren BH zum Vorschein bringen. Ups. Gerade noch gedacht, da ist es schon passiert. Ich kann den Blick nicht von ihr wenden. Genauso wenig wie sämtliche Männer, die sich in ihrem direkten Umfeld bewegen. Wow. Was für ein toller BH. Und wie toll der sitzt. Alles ist an seinem Platz und das obwohl Tanja nun nicht gerade still in der Ecke sitzt, so wie ich.

Was sie wohl jetzt macht? Ist ihr das peinlich? Ich kann es nicht erkennen, denn ihr Gesicht ist vom Tanzen sowieso schon rot. Aber Tanja bleibt auf der Tanzfläche. Sie streift einfach nur die Spaghettiträger wieder über ihre Schultern und tanzt weiter, bis die Musik eine kurze Pause macht. Ich vermute, dass sie jetzt auf die Toilette gehen wird, um ihr Kleid zu richtet. Aber nein. Weit gefehlt. Sie geht an ihren Tisch und nimmt einen großen Schluck aus ihrem noch fast vollen Sektglas. Danach begibt sie sich gleich wieder auf die Tanzfläche.

Was mache ich jetzt?

So was aber auch. Ich wollte mich doch mal mit Tanja unterhalten. Aber sie scheint sich nicht setzen zu wollen. Na, dann gehe ich eben auch mal tanzen. Ich nehme auch einen Schluck Sekt und schon fällt es mir leichter, die innere Hürde zu überwinden, die mich mal wieder verglichen hat. Gegenüber Tanja war ich mal wieder klein und unscheinbar. Um nicht weiter nur nachzudenken, tanze ich jetzt in die Menge hinein. Vielleicht ergibt es sich, dass ich in Tanjas Nähe komme. Sie jedenfalls scheint mich bis jetzt noch nicht wahrgenommen zu haben. Es ist fast wie früher. Sie zieht alle Blicke auf sich und ich bin das Mauerblümchen. Nur hab ich mich in der Zwischenzeit verändert.

Tatsächlich. Sie hat mich entdeckt. Mit einem freudigen Blick in ihren Augen signalisiert sie mir, dass sie mich wieder erkannt hat. Aber wir tanzen weiter. Bewegung mit Musik ist eben doch toll und macht was mit einem. Auch ich werde lockerer und mir wird heiß.

Der DJ macht jetzt eine kurze Pause. Da kommt Tanja auf mich zu, nimmt meine Hand und zieht mich an ihren Tisch. Mit einem Wink bestellt sie noch zwei Sekt. Dann lässt sie sich auf ihrem Stuhl nieder und bittet mich, dasselbe zu tun. Wir lachen einander an. „Schon lange nicht mehr gesehen“ kommt es fast zeitgleich von unseren Lippen. Und dann erzählt jede der anderen ein bisschen von sich und von dem was in den Jahren passiert ist. Mir interessiert vor allem die Frage, wie Tanja zu so einem tollen, optimal passenden BH kommen kann. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass das gar nicht so einfach ist.

Die Rettung ist ganz einfach!

Aber bei Tanja scheint immer alles leicht zu sein, auch wenn sie bestimmt nicht wenig Gewicht auf die Waage bringt. Als ich die Frage endlich anbringe, lacht sie. „Natürlich ist das ganz einfach. Du musst nur wissen, was du willst und dann solange danach suchen, bis du es gefunden hast.“ Ich lache auch und frage nach, wie genau sie das mit dem BH denn gemacht hat. „Ich hab mich zuerst richtig ausgemessen und meine Größe bestimmt. Dann habe ich meine Wünsche bezüglich Cup-Form, Verschluss, Träger und Farbe genau definiert und bin auf Suche gegangen, wo ich so ein BH finden würde. Ok. Ich gebe zu, dass ich sehr lange gesucht habe. Aber du siehst ja, dass ich gefunden habe, was ich suchte.“

Glückwunsch für Tanja.

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Kreuz auf der Kirchgartenmauer1

Ich kann es nicht fassen, was mir meine Freundin eben erzählt hat. Ihre vor wenigen Wochen verstorbene Mutter hat ihr Leben lang nie den optimal passenden BH getragen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Welches Leid führt dazu, dass sich eine Frau nicht annimmt und den BH als Kleidungsstück ablehnt?

Vorsichtig frage ich nach und höre dann die Geschichte einer Frau, die nie geliebt wurde, und die sich selbst nie geliebt hat.

Sonne versinkt am Horizont

> Mutti war die mittlere von drei Schwestern. Die ältere Schwester war brav und überall gern gesehen. Die jüngere Schwester war ihrer Mutter Liebling, weil sie dem im Krieg gebliebenen Vater sehr ähnlich sah. Mutti galt in ihrer Familie als trotziger Rebell, an dem ein Junge verloren gegangen war.

Als sie in die Pubertät kam, fand sie sich erst einmal schön. Wegen ihrer großen Brüste erhielt sie viele Komplimente von Männern. Aber was sie sich am meisten ersehnte, nämlich die Liebe ihrer Mutter, erhielt sie nicht. Dafür wurde sie sexuell missbraucht von einem Unbekannten. Als sie ganz zaghaft versuchte, ihre ältere Schwester ins Vertrauen zu ziehen, erhielt sie folgende Antwort: „Bei deinem Busen ist das ja auch kein Wunder“. Mutti verschloss sich wieder und fand nun ihre Brüste noch viel schlimmer. Am liebsten hätte sie ihre Brüste wegmachen lassen. Aber zu der Zeit war an so etwas überhaupt nicht zu denken. Und wegen ihrer Brustgröße war es ganz unmöglich, ohne BH an die Öffentlichkeit zu gehen.

Und trotzdem musste Muti feststellen, dass sie sehr attraktiv war. Weil sie schöne, große Brüste hatte, stellten ihr fast alle jungen Kerle im Dorf nach. Sie war das Objekt der Begierde und wurde von den so genannten „rechtschaffenen Leuten“ in die Kategorie „Hure“ gepackt. Dabei merkte Mutti, dass eben diese „rechtschaffenen Leute“ die schmutzigsten Gedanken hatten und hasste diese dafür. Sie konnte sich so moralisch einwandfrei bewegen, wie sie wollte, bekam aber ihren Ruf nicht weg. Durch ihre Heirat versuchte sie dem ganzen zu entgehen.

Doch das Glück währte nicht lange, dann merkte Mutti, dass ihr Mann ihre Brüste nicht wirklich mochte. Seine Worte über ihre angeblich nicht vorhandene Weiblichkeit trafen wie Pfeile tief ins Herz. Worte wie frigide oder Bettbrett sorgten dafür, dass sie ihre fraulichen Formen immer mehr ablehnte. Wenn Mutti sich schon vorher selbst nicht lieben konnte, wurde es während ihrer Ehe immer weniger. Sie sprach mit niemandem darüber. Ihr Umfeld bemerkte nur ihr hartes und distanziertes Wesen. Viele Menschen mieden sie deshalb.

Nach innen manifestierten sich ihre Gedanken, keine richtige Frau zu sein. Muttis Selbstwertgefühl bröckelte von Jahr zu Jahr immer mehr ab. Obwohl sie für Männer immer noch attraktiv war, überredete sie im Alter von etwa 40 Jahren ihren Frauenarzt dazu, ihr zu einer Brustverkleinerung zu verhelfen. Nachdem das tatsächlich durchgeführt wurde, lies sie auch eine Totaloperation machen. Aber obwohl sie sich jetzt eigentlich glücklich schätzen wollte, dass sie äußerlich nun männlicher wirkte, wurde sie immer unzufriedener.

In all den Jahren trug Mutti zwar einen BH, aber sie liebte dieses Kleidungsstück nie. So lange sie lebte, tat sie es nur, weil man das als Frau eben so machte. Ob dieser BH wirklich gut passte, das war Mutti egal. Es war ihr nicht wichtig, denn sie fühlte sich sowieso mehr als Mann. Alle Aufgaben blieben an ihr hängen. Ihr Mann war für alle der Liebe und Brave und irgendwie der Liebling der ganzen Verwandtschaft. Auch ich als Tochter mochte meinen Papa lieber als die Mutti. Mutti war fordernd und hart.

Kastanienblüte

Im hohen Alter wurde sie pflegebedürftig. Es war für mich nicht leicht mit Mutti klar zu kommen. Immer wieder spürte ich deutlich, dass sie sich als Frau nicht annehmen konnte. Einmal versuchte ich für Mutti einen schönen BH zu kaufen, weil sie zur Hochzeit unserer Tochter ein hübsches Festkleid trug. Aber Mutti wollte nicht. Ich hab es dann gelassen. Warum sollte ich meinen Willen auf sie überstülpen? Ihr Selbstwertgefühl konnte ich nicht verändern. Daran hätte sie schon selbst arbeiten müssen. Ich konnte sie nur lieben, wie ich es eben verstand.

Jetzt ist sie tot. Und ich als Tochter fange erst langsam an zu verstehen, wie schwer es für sie gewesen ist, sich ihr Leben lang nicht angenommen zu wissen und sich selbst auch nicht anzunehmen. Auch mir fällt es schwer, weil sie mir darin kein Vorbild war. Aber ich übe, weil ich weiß, dass es mir damit viel besser geht.<

Soweit die Geschichte meiner Freundin über ihre Mutti. Sie zeigt, dass das Selbstwertgefühl bei uns Frauen ganz eng mit unseren Brüsten zusammenhängt. Wenn wir unsere Weiblichkeit nicht annehmen, dann achten wir auch nicht auf den optimal passenden BH.

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